[3] Walter Benjamin - Ein bewegtes Leben

Überblick 3/11


Berliner Kindheit

Berlin an der Wende zum 20. Jahrhundert. Es ist die Blütezeit des Imperialismus. Kaiser Wilhelm II will Deutschland als Weltmacht etablieren. Das gesellschaftliche Klima ist rigide, patriarchal, militaristisch und konservativ. Am 15. Juli 1892 kommt Walter Benjamin als Ältester von drei Geschwistern zur Welt. Die Eltern sind wohlhabend, liberal und jüdischen Glaubens. An seine Schulzeit – Singen bei Lehrer Knoche - erinnert sich Walter Benjamin in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert:
Geübt wurde das Reiterlied aus »Wallenstein«: »Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! / Ins Feld, in die Freiheit gezogen! / Im Felde, da ist der Mann noch was wert, / Da wird das Herz noch gewogen.« Herr Knoche wollte von der Klasse wissen, was denn der letzte Vers bedeuten solle. Natürlich konnte niemand Antwort geben. Herrn Knoche aber schien das eben recht, und er erklärte: »Das werdet ihr verstehen, wenn ihr groß seid.« (1➘)
Von 1905 bis 1907 besucht Benjamin die Hermann-Lietz-Schule Haubinda (2➘), eine reformpädagogische Schule in Thüringen. Abitur macht er 1912 am Kaiser-Friedrich-Gymnasium in Berlin. Danach will er studieren und Gelehrter werden. Finanziell setzt er dabei auf die dauerhafte Unterstützung durch seine Eltern. Dazu die in Hamburg lebende Autorin und Benjamin-Kennerin Birgit Haustedt (3➘) :

Stationen eines Intellektuellen

Benjamin studiert Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte zunächst in Freiburg und ab dem Wintersemester 1912/13 in Berlin. Er engagierte sich in der freideutschen Jugendbewegung (5➘). Mit seinem wissenschaftlichen Vorankommen in Freiburg scheint er unzufrieden. So schreibt er im Mai 1912:
Die Wissenschaft ist eine Kuh. Sie macht: muh. Ich sitze im Hörsaal und höre zu! (...) Tatsächlich komme ich hier 10x weniger wie in Berlin zu eigenem wissenschaftlichen Denken. (6➘)
An der konservativen Berliner Universität gründet Benjamin den Sprechsaal, ein unabhängiges Diskussionsforum für kritisch eingestellte Studierende. Hier trifft er auch Dora Pollak, seine zukünftige Frau. 1914 wird Benjamin zum Präsidenten der Freien Berliner Studentenschaften gewählt.
1917 zieht Benjamin nach Bern (Schweiz). Er schreibt seine Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (7➘) und wird 1919 mit der Bestnote summa cum laude promoviert. Mit seinem Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels (8➘) möchte sich Benjamin 1925 an der Frankfurter Universität habilitieren. Der durch die konservative Professorenschaft drohenden Zurückweisung seiner Habilitation kommt Benjamin jedoch zuvor und zieht seinen Antrag zurück. Seine Vorstellung, Dozent an einer Universität zu werden, lässt sich nicht realisieren. Als freier Schriftsteller sind Benjamins Verdienstmöglichkeiten jedoch äußerst beschränkt. Auch kann ihn sein Vater aufgrund großer Aktienverluste nicht mehr ausreichend unterstützen.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten flieht Benjamin im September 1933 nach Paris. Seine Publikationsmöglichkeiten im Exil sind einschränkt, seine finanzielle Lage ist prekär.

Bewegtes Privatleben

Nicht nur in seinem Schaffen setzt sich Walter Benjamin kritisch mit verknöcherten kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen auseinander. Auch in seinem Privatleben verfolgt er bereits gegen Ende des 1. Weltkriegs Vorstellungen, die aus heutiger Sicht eher in der Studentenbewegung ab 1968 zu verorten wären. Walter Benjamin und seine Frau Dora, die 1917 heiraten und einen Sohn haben, führen eine Ehe, die Nebenbeziehungen zulässt. Walter fängt eine Beziehung mit Jula Cohn, einer Jugendfreundin an, Dora verliebt sich in Walters besten Freund, Ernst Schoen. Beide besprechen ihre Beziehungen ausführlich miteinander. Walter hält insgesamt nichts von der bürgerlichen Ehe, Dora ist traditioneller eingestellt (9➘).
Als Benjamins Eltern Walter und Dora ab 1920 nicht mehr finanziell unterstützen können, ziehen beide ins Haus der Eltern. Dora sorgt für die finanzielle Grundlage, übersetzt Kriminalromane, arbeitet als Angestellte in Büros. Das Paar entzweit sich. Dora will nicht auch noch Benjamins Liebesverhältnisse finanziell unterstützen. 1929 reicht sie die Scheidung ein. Ein Scheidungsdrama – ganz bürgerlich, mit wechselseitigem Vorwurf des Ehebruchs.
Drei Frauen spielen in Walter Benjamins Leben eine besondere Rolle: Neben seiner Frau Dora die Bildhauerin Jula Cohn und Asja Lacis (10➘). Asja Lacis stammt aus Moskau, ist Theaterregisseurin, Schriftstellerin und Kommunistin. Von ihr bekommt Benjamin entscheidende politische Impulse.
Benjamin widmet je eines seiner Hauptwerke den wichtigsten Frauen seines Lebens: Dora seine Habilitation, Jula Cohn seine Abhandlung zu Goethes Wahlverwandtschaften und Asja Lacis seinen Text Einbahnstraße.

Haschischexperimente

Unbegrenztes Wohlwollen. Versagen der zwangsneurotischen Angstkomplexe. Der Schöne „Charakter“ tut sich auf. Alle Anwesenden irisieren ins Komische. Zugleich durchdringt man sich mit ihrer Aura. (...) Man geht die gleichen Wege des Denkens wie vorher. Nur sie scheinen mit Rosen bestreut. (W. B.: Hauptzüge der ersten Haschisch-Impression, 1927.) (12➘)
Diese Impressionen notiert Walter Benjamin nach der Einnahme von Haschisch am 18. Dezember 1927 in Berlin. Es ist die Zeit der sogenannten wilden zwanziger Jahre, ein mutiger Aufbruch in allen gesellschaftlichen Bereichen. Gemeinsam mit Freunden experimentiert Benjamin in den folgenden Jahren auch in Frankreich und Spanien immer wieder mit Haschisch (Crock) und anderen Drogen wie etwa Mescalin. Es geht ihm darum, Bewusstseinsveränderungen im Rausch zu erleben und zu erforschen. Die Drogenexperimente werden deshalb von Beobachtern und der Versuchsperson - dem Drogenkonsumenten - protokolliert. Auch Benjamins Freund, der Philosoph und Marxist Ernst Bloch (13➘)) ist an den Drogenversuchen beteiligt. Bloch, auf dessen Texte sich Teile der 68er-Studentenbewegung beziehen, ist auch mit deren Protagonisten Rudi Dutschke befreundet. Ein ursprünglich geplantes Buch über die Drogenexperimente realisiert Benjamin nicht. Posthum erscheint eine Sammlung von Protokollen, Skizzen und kurzen Texten unter dem Titel Über Haschisch (14➘), die in den 1970er-Jahren häufig rezipiert werden.

Quellen und externe Links

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  1. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Kapitel 2, Projekt Gutenberg, Suhrkamp Verlag, Walter Benjamin Gesammelte Schriften IV-1, 1991 [DE] , Walter Benjamin's Berlin. A pathway which focuses on Walter Benjamin's childhood memoirs [EN] ,
  2. Die Hermann-Lietz-Schule Haubinda wurde als reformpädagogisches Landerziehungsheim 1901 gegründet und ist heute eine staatlich anerkannte Regelschule.
  3. Birgit Haustedt ist Autorin des Buchs Die wilden Jahre in Berlin, Berlin 2002, Berliner Taschenbuchverlag. Im Kapitel Wahlverwandschaften geht es um Walter und Dora Benjamin, um freie Liebe und modernen Beruf.
  4. Brief Walter Benjamins an Herbert Belmore, Freiburg 1913, Edition Suhrkamp 930, 1978. S. 45
  5. Die Freideutsche Jugendbewegung war ein Teil der bürgerlichen Jugendbewegung, die um 1900 entstand. Sie verband die Suche nach einer neuen individuellen Lebensgestaltung, Einfachheit und Naturverbundenheit, aber auch Kulturkritik und antibürgerliche Wendung.
  6. Walter Benjamin studierte bei Prof. Dr. Heinrich Rickert in Freiburg Philosophie. Brief Walter Benjamins an Herbert Belmore 14.5.1912. Edition Suhrkamp 930, 1978. S. 40
  7. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Suhrkamp Taschenbuchverlag, Gesammelte Schriften II, 1991
  8. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Suhrkamp Taschenbuchverlag, Gesammelte Schriften II 1991 [DE] , [EN]
  9. Birgit Haustedt: Die wilden Jahre in Berlin, Berlin, 2002, Berliner Taschenbuchverlag, S. 83ff
  10. Weitere Informationen zu Asja Lacis unter [DE] , [EN] , [ES]
  11. Evangelische Akademie Bad Boll. Am 8. Februar 1968 kam es in der Evangelischen Akademie Bad Boll zu einer historischen Begegnung. Erstmals traf sich der Tübinger Philosoph Ernst Bloch mit dem Berliner Studentenrebellen Rudi Dutschke. Moderiert wurde das Gespräch von Studienleiter Klaus Reblin.
  12. Walter Benjamin: Hauptzüge der ersten Haschisch-Impression, 18. Dezember 1927, 3 ½ Uhr früh, Projekt Gutenberg Gesammelte Schriften Bd. 6, S. 560
  13. Zu Ernst Bloch siehe auch: [CA] , [ES] , [FR] , [EN] , [DE]
  14. Walter Benjamin: Über Haschisch, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a.M., 1972. Ebenfalls in: [DE] , [EN]
  15. Interview mit Birgit Haustedt zu ihrer Vita [DE]: