Idealismus: Göttliche oder menschliche absolute Idee ist das Fundament von Wirklichkeit, Wissen und Moral - und auch der Geschichte. Physikalische Welt existiert nur im Bewusstsein. [Friedrich Hegel]
Dialektischer Materialimus: Die objektive Wirklichkeit lässt sich aus ihrer materiellen Existenz und Entwicklung erklären. Die Materie und die in ihr enthaltenen Widersprüche sind die treibende Kraft der Weltgeschichte. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. [Karl Marx, Friedrich Engels]
Historischer Materialismus: Die ökonomische Produktion und gesellschaftliche Gliederung einer Geschichtsepoche bildet die Grundlage für die politische Geschichte dieser Epoche. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. [Karl Marx, Friedrich Engels]
Benjamin zwischen Marxismus-Leninismus (Diktatur des Proletariats), Kritischer Theorie (praktische Philosophie mit dem Ziel der Selbstbestimmung des Menschen) und jüdischem Messianismus
Vertreter der Kritischen Theorie?
Max Horkheimer (links) und Theodor Adorno (rechts) im Jahr 1964 in Heidelberg beim Max-Weber-Soziologentag. Sie gelten als klassische Vertreter der Kritischen Theorie. Das Foto von Jeremy J. Shapiro stammt aus der freien Mediendatenbank Wikimedia Commons und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation.
Der Literaturwissenschaftler und Leiter des Walter-Benjamin-Archivs in Berlin, Prof. Dr. Erdmut Wizisla
Politisch steht Walter Benjamin der Kritischen Theorie oder auch Frankfurter Schule (1➘) der 1930er- und 1940er-Jahre nahe: Im Mittelpunkt dieser marxistischen Denkrichtung steht die wissenschaftliche Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Herrschaftsmechanismen. Vielfach wird Benjamin als Vertreter und Außenseiter der Kritischen Theorie bezeichnet (2➘). Der Literaturwissenschaftler und Leiter des Walter-Benjamin-Archivs in Berlin, Prof. Dr. Erdmut Wizisla:
Religion und Revolution
Anteile der Atheist_innen in Europa: Umfrage der Europäischen Kommission 2005 zur Aussage Es gibt keine Art von Gott oder spirituelle Kraft
Der jüdische Religionshistoriker und enge Freund Benjamins Gershom Scholem (1935).
Aus marxistischer Sicht verstellt Religiosität und Glaube den klaren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, für Marx ist Religion das Opium des Volkes. Nicht so für Benjamin, er vereint religiös-politischen Messianismus mit revolutionären Vorstellungen für die Gegenwart. (3➘) Eine inhaltliche Kontroverse, die sich durch Benjamins gesamtes Leben zieht, nicht zuletzt auch als permanente Auseinandersetzung im Rahmen seiner engen Freundschaft mit dem jüdischen Gelehrten Gershom Scholem. Erdmut Wizisla:
Benjamin warnt davor, die Inhaber der Macht zu unterschätzen:
Die Herrschenden wollen ihre Position festhalten mit Blut (Polizei),
mit List (Mode), mit Zauber (Prunk). (4➘)
Um Kraft zu schöpfen, vereint er Elemente des Rauschhaften und der Traumwelt, ohne dem historischen Materialismus den Rücken zu kehren:
1852 ... führte es zu allen Genüssen der Welt, wenn man Bonapartist war. Die Bonapartisten, das waren, menschlich gesprochen, die Lebensgierigsten: darum siegten sie.
Interesse am Kommunismus
Sowjetisches Plakat der Komintern zum IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationalen und dem 5. Jahrestages der Oktoberrevolution im Jahre 1922. Lenin und Trotzki entwickeln - damals noch gemeinsam - die Strategie der Einheitsfront.
Benjamin interessiert sich schon sehr früh für die Idee des Kommunismus, analysiert die Entwicklungen nach der russischen Oktoberrevolution 1917, reist zu seiner Geliebten und Arbeitspartnerin Asja Lācis 1926/27 nach Moskau und reflektiert kritisch das entstehende sozialistische Einparteiensystem. Erdmut Wizisla:
Genossen! Die vorliegenden Thesen zur Bolschewisierung begrüße ich aufrichtig. Genosse Sinowjew hat durchaus recht. Leider! Die objektive Weltlage ist nicht unmittelbar revolutionär in diesem Augenblick. Ich halte deshalb die Thesen zur Bolschewisierung der kommunistischen Parteien für eine absolute Notwendigkeit. [Clara Zetkin 1925]
Geschichtsphilosophische Studien
Walter Benjamin ist inspiriert von Paul Klees Angelus novus (1920): "Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."
Als zentral im Werk von Walter Benjamin gelten seine geschichtsphilosophischen Studien der 1930er-Jahre, die unter dem Titel Pariser Passagen durchaus als grundlegende Kritik an der auch heute noch herrschenden Geschichtsschreibung betrachtet werden dürfen. (5-8➘) Erdmut Wizisla beschreibt drei zentrale Punkte in Benjamins Geschichtsphilosophie:
1. Geschichtsschreibung ist stets interessengeleitet:
2. Geschichtsschreibung ist stets Geschichtsschreibung der Herrschenden:
3. Geschichte ist eine Abfolge von Katastrophen, Revolution der Griff zur Notbremse:
Quellen und externe Links
Externe Links öffnen sich in einem neuen Browserfenster oder Tab. Sie benötigen eine Internetverbindung.
Wolfgang Schirmacher - Die Frankfurter Schule [DE] , Wolfgang Schirmacher - The Frankfurt School [EN]
Prof. Dr. Jörg Zimmer, Stiftungslehrstuhl Walter Benjamin an der Universität Girona, skizziert, in welchem Verhältnis Benjamin zur Kritischen Theorie zu sehen ist:
Benjamin zu Religion und Revolution: Gesammelte Schriften [DE]
das subjekt historischer erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte klasse - Andreas Baader (RAF) in Brief an die Gefangenen 1976 mit Bezug auf Benjamin [DE]
Das Kontinuum der Geschichte aufsprengen! - Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen zwischen historischem Materialismus, jüdischer Mythologie und libertärer Geschichtsauffassung; in: Schwarzer Faden Nr. 69, 1999
Eine vom Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz launig formulierte rechtskonservative Kritik an Benjamins Geschichtsthesen“ [DE]
Der Publizist und Gesellschaftskritiker Roger Behrens zu Walter Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte" (Vortrag zum Hören, 60 min) [DE]
Der Publizist und Autor Marcus Hawel zu Walter Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte" (Vortrag zum Hören, 30 min) [DE] , Textfassung [DE]