Frankreich unter deutscher Besatzung 1940 – 44
By Eric Gaba CC BY-SA, via Wikimedia Commons
1933 erlangen in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht. Unter Führung Adolf Hitlers errichten sie eine totalitäre Gewaltherrschaft. Ihre antisemitische Rassenideologie verfolgt und ermordet Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und alle, die das Regime nicht zur deutschen Volksgemeinschaft zählt. Oppositionelle werden gefoltert, in Konzentrationslager verschleppt, ermordet, ins Exil getrieben. Am 1. September 1939 überfällt die deutsche Armee Polen: der Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa.
Der Kriegseintritt Frankreichs, eines der wichtigsten Aufnahmeländer für NS-Verfolgte, hat fatale Folgen für diejenigen mit (ehemals) deutschem Pass: Auch Juden und Antifaschist_innen werden als feindliche Ausländer in Internierungslager eingewiesen. Im Juni 1940 kapituliert Frankreich: Der Norden wird besetzt, die südliche, freie Zone steht unter Verwaltung der Vichy-Regierung und kollaboriert mit den Nazis. Eine Massenflucht in den Süden beginnt.
Marseille wird zur ersten Adresse für NS-Verfolgte: In der Hafenstadt sind noch Reisedokumente und rettende Schiffspassagen nach Nordafrika oder Übersee zu ergattern. Doch bald legen auch dort keine Schiffe mehr ab. Marseille wird zur Falle. (1➘)
Auslieferung auf Verlangen
Vichy-Staatschef Philippe Pétain und Adolf Hitler bei einem Treffen am 24. Oktober 1940 in Montoire
Bundesarchiv, Bild 183-H25217 / CC-BY-SA, via Wikimedia Commons
1940 wird Frankreich innerhalb weniger Wochen von deutschen Truppen überrannt. Das Waffenstillstandsabkommen vom 22. Juni 1940 regelt in Artikel 19 die Auslieferung auf Verlangen. Die Vichy-Regierung wird verpflichtet alle in Frankreich (…) befindlichen Deutschen, die von der Deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern. Im Juli 1940 erstellt die deutsche Kundt-Kommission Listen in den südfranzösischen Internierungslagern: die Grundlage für spätere Auslieferungen. Schon vorher grenzen die Nazis massiv aus: Die erste Ausbürgerungsliste 1933 entzieht 33 Personen die deutsche Staatsangehörigkeit.
Marseille, Güterbahnhof Gare d'Arenc, Januar 1943: Deportation von Juden unter Bewachung von SS und französischer Polizei. Aufnahme einer Wehrmacht-Propagandakompanie
Bundesarchiv, Bild 101I-027-1477-19 / Vennemann, Wolfgang / CC-BY-SA, via Wikimedia Commons
Unter ihnen fliehen über die Pyrenäen ins Exil: der Publizist Georg Bernhard, der Mathematiker Emil Gumbel, die kommunistische Politikerin Ruth Fischer, die Schriftsteller Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger, der sozialdemokratische Politiker Friedrich Stampfer. Die Nürnberger Gesetze von 1935 stempeln Juden zu Menschen minderen Rechts ab. Ab 1941 verlieren sie beim Verlassen Deutschlands ihre Staatsbürgerschaft – die weitere Flucht als Staatenlose ist doppelt schwierig. Ab 1942 werden in Frankreich lebende Jüdinnen und Juden in Vernichtungslager deportiert. Die Flucht über die Pyrenäen – nun eine Frage auf Leben und Tod.
Im Sommer 1940 gründet sich in New York das Emergency Rescue Committee. Ziel ist es, gefährdete Intellektuelle mit einem US-Notvisum aus Frankreich herauszubekommen. Dazu schickt das ERC im August 1940 den Journalisten Varian Fry nach Marseille. Er schreibt in seinen Erinnerungen „Auslieferung auf Verlangen“:
Ich verließ Amerika, die Taschen vollgestopft mit den Listen der Namen von Männern und Frauen, die ich retten musste, und den Kopf voller Ideen, wie ich das bewerkstelligen wollte. Es waren mehr als 200 Namen, und viele Hundert kamen später dazu. (2➘)
Statt geplanter 4 Wochen bleibt Fry 13 Monate und verhilft mit seinem Team über 2.000 Personen zur Flucht – unter ihnen sind die Philosophin Hannah Arendt, der Bildhauer Jacques Lipchitz, die Pianistin Wanda Landowska, der Revolutionär Victor Serge, die Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Walter Mehring und Heinrich Mann, der Surrealist André Breton, der Maler Marc Chagall. (3+4➘)
Maurice Verzeano, Charles Fawcett und Jean Gemähling arbeiten für das ERC. Hier aus dem Film Villa Air Bel von Jörg Bundschuh: Verzeano erzählt von der illegalen Tätigkeit, Fawcett von der Rettung auch nicht Prominenter, Gemähling von der Haltung Vichy-Frankreichs. (5➘)
Harvard-Absolvent Fry scheut - angesichts der ausweglosen Grenzbestimmungen – auch Schwarzmarktgeschäfte und Bestechung nicht. Getarnt als legales Unterstützungsbüro für Flüchtlinge arbeitet das ERC eng mit Lisa und Hans Fittko zusammen und benennt den Fluchtweg nach ihnen: die F-Route. Von Vichy-Frankreich wird Fry misstrauisch beäugt, von US-Stellen fühlt er sich zunehmend im Stich gelassen. Im August 1941 wird Fry aus Frankreich ausgewiesen. (6➘)
Etwa 80.000 Menschen fliehen vor dem NS-Regime über die Pyrenäen nach Spanien: Juden, Antifaschist_innen, abgeschossene Piloten der Alliierten und Mitglieder der französischen Resistance. In Spanien regiert der Diktator Franco, in Portugal das Salazar-Regime. Trotz der ideologischen Nähe des spanischen Franquismus zum NS und deutsch-spanischer Abkommen ist die iberische Fluchtroute für fast alle die Rettung. Auslieferungen an die Nazis sind die Ausnahme – die Regel sind verweigerte Einreise, Abschiebung nach Frankreich, Internierung oder geglückte Durchreise. Die 16-jährige Jüdin Margit Meissner und ihre Mutter fliehen vom französischen Grenzort Cerbere nach Portbou, werden verhaftet und ins Gefängnis nach Girona gebracht: (7➘)
In Cerbere war überall Polizei und wir taten so als würden wir einen Spaziergang machen. In Portbou gingen wir zu dem Mann, der uns empfohlen worden war, doch sein Kontakt war verhaftet worden. Was konnten wir tun? Wir wollten zu Freunden nach Barcelona, gingen zum Bahnhof. Dort wurden wir verhaftet denn wir hatten keinen Ausreisestempel aus Frankreich.
Margit und Lilly Meissner werden bald entlassen. Andere verbringen Monate im spanischen Internierungslager Miranda de Ebro, kommen erst auf Druck des britischen Konsulats oder jüdischer Hilfskomitees wieder frei. Besonders gefährdet ist, wer im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat, und spanische Antifaschist_innen. Die Mehrzahl aber kann - trotz gefälschter oder fehlender Papiere – Spanien durchqueren.
Der sozialdemokratische Journalist Henry William Katz wird vom ERC und spanischen Fluchthelfern über Madrid nach Portugal geschleust. (8➘)
Ich schaute aus dem Fenster denn ich musste den Träger mit der Nummer 25 finden. Als wir ausstiegen kam er, sprach gleich französisch mit uns, kannte unsere Namen. Ich hörte sofort auf mir Sorgen zu machen. Er brachte uns zum Hotel und später zum Zug nach Portugal. Am nächsten Morgen waren wir in Lissabon!
Grenzüberwachung und Kontrolle
Nach der Besetzung ganz Frankreichs wird die Pyrenäen-Sperrzone noch verschärft
Die Pyrenäen sind Grenzriegel und gleichzeitig Tor zur Freiheit: Wälder und Schluchten, durchzogen von Ziegenpfaden, sind schwer zu überwachen. Jahrhundertelange Schmuggeltradition und enger Kontakt zwischen der katalanischen Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze begünstigen Fluchthilfeorganisationen. 1940 ist die Grenze noch relativ leicht zu passieren. Die Sozialdemokratin Elsbeth Weichmann schildert in ihrem Buch Zuflucht eine Begegnung an der Grenze:
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Der Zöllner drehte uns den Rücken zu und ging fort. Er war noch kein Vichy-Mann. Er wollte uns nicht sehen.
Doch die Regelungen werden schärfer: Meldepflicht für Hoteliers, massive Grenzkontrollen, strikte Visapflicht, Sperrzonen in Grenz- und Küstengebieten. 1942 besetzt Nazi-Deutschland auch den Süden Frankreichs - nun überwachen deutsche statt französische Posten die Grenze. Die Fluchtrouten werden riskanter, über immer höhere, steile Pässe.
Spanien verstärkt auf Druck Deutschlands seine Einreisebestimmungen. Die Zahl der Verhaftungen in Spanien steigt. Das Außenministerium weist aber auch darauf hin, dass es Angelegenheit Deutschlands sei, die Grenzen seines Machtbereichs zu überwachen.
Quellen und externe Links
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Umfassende Informationen dazu in: Anne Klein: Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe 1940 – 1942. Berlin 2007
Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, Frankfurt 2009 [DE], Varian Fry: Surrender on Demand, New York 1945 [EN]
Der Berliner Verein Aktives Museum hat zu Varian Fry eine sehr sehenswerte Ausstellung erstellt:
, Ausstellungskatalog: Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin – Marseille – New York. Berlin 2007
Die Website www.varianfry.org bietet viele Informationen zu Varian Fry und dem ERC
Der Film Villa Air Bel von Jörg Bundschuh begibt sich auf die Spuren von Varian Fry und dem ERC. Eine Produktion von Kick Film , der Film ist erhältlich bei Amazon
Sheila Isenberg: A hero of Our Own. The Story of Varian Fry, New York 2001 [EN]
Das ganze Interview des United States Holocaust Memorial Museum mit Margit Meissner ist hier anzuhören:
Hier ist das komplette Interview mit H. W. und Friedel Katz anzusehen:
Elsbeth Weichmann: Zuflucht: Jahre des Exils. Hamburg 1983