[6] Die Mühsal der Flucht

Überblick 6/11


Benjamin am Rande des Abgrunds

Die Grenzpassage, den 16 km langen Weg von Banyuls nach Portbou über den 550 Meter hohen Pass, schaffen manche Exilant_innen mühelos, andere nur knapp. Viele sind in schlechter körperlicher Verfassung - nach Jahren in NS-Haft, im Untergrund, im Exil oder in Internierungslagern, die ständige Angst vor Verhaftung, Folter und Tod im Nacken (1➘).
Grenzen verheißen Ausweg, immer aber sind sie Orte von Anspannung, Panik, dem Gefühl von Verlust, Ohnmacht, Bedrohung. Am 26. September 1940 bringt die Fluchthelferin Lisa Fittko den 48-jährigen Walter Benjamin über die spanische Grenze. Sie geht diesen Weg zum ersten Mal – nur mit einer Beschreibung und selbstgezeichneten Karte des Bürgermeisters von Banyuls, Vincent Azéma (2➘):

© Aus dem Dokumentar-Hörbuch: Lisa Fittko: 'Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte...' ABACUS Medien 2006
Benjamin übernachtet in den Bergen. Am nächsten Morgen holen ihn Lisa Fittko und die Gurlands ab, gemeinsam setzen sie den Weg fort.

Die Aktentasche des Walter Benjamin

Der früh gealterte Walter Benjamin klagt über Herzbeschwerden, ihm fällt der steile Weg bergauf schwer. Trotzdem schleppt er eine Aktentasche mit einem Manuskript über die Pyrenäen. Welches Werk sich in der Tasche befindet, darüber wird viel spekuliert. Seine Fluchthelferin Lisa Fittko erzählt vom Gang hinauf zur spanischen Grenze:

© Aus dem Dokumentar-Hörbuch: Lisa Fittko: 'Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte...' ABACUS Medien 2006
Die Rettung des wertvollen Manuskripts gelingt nicht. Auch Nachforschungen bei Henny Gurland und ihrem Sohn Joseph, die mit Benjamin über die Pyrenäen fliehen, erhellen nicht, um welches Werk Benjamins es sich handelt. Oft wird in der Tasche die unvollendete Passagen-Arbeit, die er in der Pariser Nationalbibliothek deponierte, vermutet (3➘). Erdmut Wizisla, der Leiter der Walter Benjamin Archivs in Berlin, bezweifelt dies:
Das Manuskript wird nie gefunden. Im Bericht des Stadtrichters von Portbou, der nach Benjamins Tod die letzten Habseligkeiten wie Pass, Brille, Pfeife auflistet, ist nur von einigen Briefen und Zeitungen zu lesen.

Alma Mahler-Werfel, Heinrich Mann, …

Für viele Großstädter sind die Pyrenäenausläufer ein schwer zu überwindendes Hindernis. Der 70-jährige Autor Heinrich Mann beschreibt den Ziegensteig nach dem Exil in seinen Erinnerungen (4➘):
Ich hatte seit Jahrzehnten keinen beträchtlichen Berg mehr bestiegen, war nunmehr ungeschickt und nicht jung: ich fiel recht oft auf die Dornen.
Heinrich Mann flieht am 12. September 1940 an der Steilküste, auf der recht kurzen Route von Cerbere über die Berge ins benachbarte Portbou. Mit ihm unterwegs ist die Künstlerin Alma Mahler-Werfel (5➘):
Die Ziegen vor uns stolperten, die Schiefersteine flimmerten, sie waren spiegelglatt, und wir mußten hart an Abgründen vorbei.
Wenige Tage später ist die Fluchtroute Cerbere – Portbou zu stark kontrolliert. Den längeren Weg ab Banyuls gehen die Widerstandskämpfer_innen Else und Konrad Reisner, mit ihrer wenige Wochen alten Tochter auf dem Rücken. Für die sportliche Wiener Autorin Hertha Pauli ist der Schmugglerpfad eigentlich ein Klacks. Doch sie schleppt sich mit hohem Fieber über die Berge und wird mit ihrem Begleiter Karl Frucht in Spanien festgenommen (6➘):
Ein paar kleine Hunde spielten mit einem Grenzer, ich kauerte mich auf den Boden und spielte mit ihnen. Da lachte er mir plötzlich zu.
Mit Glück und Zigaretten für ihre Bewacher kommt sie am nächsten Tag frei. Auch der Fluchthelfer Albert O. Hirschman entkommt im Dezember 1940 über die F-Route. Ein spanischer Kuhhirte, der ihm unterwegs die Richtung weist, nimmt sein Geld nicht an und sagt nur stolz: Yo cuido mis vacas (Ich hüte meine Kühe) (7➘).

Quellen und externe Links

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  1. Das virtuelle Museum Künste im Exil ist ein Netzwerkprojekt zum Phänomen Exil [DE] [EN]
  2. Lisa Fittkos Erinnerungen sind hier anzuhören: Lisa Fittko: Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte. Ein Dokumentar-Hörbuch – 3 CD mit Booklet, ABACUS Medien 2006
  3. Ein ungewöhnlicher Zugang zu Benjamins Passagen-Arbeit: , ein (mehrsprachiges) Kunstprojekt von Francesc Abad zu Walter Benjamin:
  4. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Berlin 1973
  5. Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Frankfurt 1960
  6. Pauli, Hertha: Der Riss der Zeit geht durch mein Herz. Wien 1970
  7. Der Ökonom Albert O. Hirschman war aktiv in der italienischen Resistenza, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und war Mitarbeiter des Emergency Rescue Committee. Seine Erinnerungen als Buch: A Propensity to Self-Subversion. Harvard 1998