[7] Grenze, Pass und Fluchtrouten

Überblick 7/11


1939: Massenflucht Ende des Spanischen Bürgerkriegs

Am 1. April 1939 erklärt sich der Putschist Francisco Franco zum Sieger im Spanischen Bürgerkrieg (1936–39) und überzieht das Land mit blutiger Repression. Ein Exodus der Verteidiger_innen der Republik beginnt: Fast 500.000 Menschen fliehen über die Pyrenäen, vor allem im erbitterten Widerstand leistenden Katalonien (2➘). Nach General Líster, dessen Truppen hier entkommen, heißt der Walter-Benjamin-Weg auch Ruta Líster. Weiter östlich, auf der Straße von Portbou nach Cerbère harren die vom Krieg ausgezehrten Menschen aus, bis Frankreich ab dem 27. Januar 1939 seine Grenze öffnet. Unter ihnen ist die 10-jährige Lluïsa Miralles mit ihrer Mutter:

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Close Es war eisig kalt. Wir litten unter Hunger, zu wenig Kleidung. Als wir zu Fuß am Pass ankamen, wollten die französischen Behörden die Grenze nicht öffnen. Wir warteten in der Kälte, bis sie endlich die Grenze öffneten: für Kinder, Mütter, Verletzte und Alte. Erst 5 Tage später durfte das republikanische Heer die Grenze passieren. Wir liefen zum Bahnhof von Cerbère, dort begann unser Exil.
Eingesperrt im Internierungslager Argeles-sur-Mer trifft Lluïsa Miralles ihren Vater wieder, der für die Republik gekämpft hat. Er muss nach der Besetzung Frankreichs für das deutsche Heer arbeiten, schreibt aber für die Untergrundpresse. Lluïsa Miralles heiratet den Überlebenden des KZ Mauthausen, Miquel Serra, und lebt in Perpignan.

1940: Flucht über die F-Route

Die Pyrenäen: während des 2. Weltkriegs Hürde und zugleich Tor zur Freiheit - auf der Flucht vor den Nazis, Konzentrationslager und Tod. Bis zur Befreiung Südfrankreichs 1944 überqueren etwa 80.000 Menschen die Berge nach Süden, zunächst überwiegend jüdische Flüchtlinge und politisch Verfolgte. Claire und Henry Ehrmann gelangen 1940 über die F-Route (benannt nach Lisa und Hans Fittko) von Banyuls nach Portbou (3➘):

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Close Im Grenzbüro stellten wir uns harmlos und zeigten das US-Visum. Sie überprüften unsere Namen, hatten Listen von Leuten, die im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten. Noch waren wir nicht sicher, wir mussten ja noch durch ein faschistisches Land.
Der heutige Walter-Benjamin-Weg verläuft weitestgehend auf der Fluchtroute Benjamins. Als die F-Route über die Pyrenäenausläufer immer stärker überwacht wird, kundschaftet der Fluchthelfer Marcel „Maurice“ Verzeano neue, höhere Routen über Andorra aus (4➘):

1942: Ganz Frankreich ist besetzt

Nach der Landung der Alliierten am 8. November 1942 in Nordafrika besetzt Nazi-Deutschland den Süden Frankreichs. Es verschärft die Überwachung der Pyrenäengrenze, errichtet ein Sperrgebiet von 20 Kilometern. Die Gebirgspassage ist lebensgefährlich: auf immer riskanteren Routen, durch steiles Gelände. Dort flüchten immer mehr alliierte Piloten, abgeschossen über Frankreich, oder Soldaten wie der Brite Peter Scott Janes. Er kann 1941 noch im niedrigen Teil der Pyrenäen entkommen, erklärt sein Sohn Keith Janes (6➘):

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Close Er wurde im Juni 1940 gefangen genommen, konnte fliehen und wurde 16 Monate von Franzosen versteckt. Von Nordfrankreich bis Perpignan geschleust überquerte er dort in einer Nacht die Pyrenäen. In Spanien war er 6 Wochen im Gefängnis bis ihn britische Diplomaten über Barcelona, Madrid nach Gibraltar brachten und per Schiff im Januar 1942 nach GB.
Die Fluchtwege retten zigtausende Leben (7➘). Elementar sind sie auch für den Kontakt zwischen den Alliierten und der ab 1942 erstarkenden Resistance in Frankreich. Als dort 1943 der Service du travail obligatoire (STO) eingeführt wird, fliehen immer mehr Französinnen und Franzosen, um sich der Zwangsarbeit zu entziehen. So auch Paul Broué aus Seix: Er wird im Juli 1943 von Schmugglern über die Pyrenäen geschleust.

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Close Als Freunde von mir den Befehl hatten zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu gehen, ging ich mit ihnen über die Berge, nach Spanien. An meinem 20. Geburtstag kam ich ins Gefängnis, und war in Zaragossa, Lerida, Logroño, Miranda de Ebro in Haft.
Paul Broué kommt schließlich frei und schließt sich der Resistance in Nordafrika an (8➘).

1943/44: Fluchtrouten durch Schneefelder

Die Überquerung der Pyrenäen, über steile Pässe bis zu 2.500 Metern Höhe, bei Schnee und Eis, fordert immer mehr Todesopfer - von Grenzpatrouillen erschossen, durch Erschöpfung, Lawinen oder Absturz. Auf eigene Faust ist die Flucht fast unmöglich: untrainiert, ohne Ortskenntnis und Ausrüstung fürs Hochgebirge. Immer nötiger ist die Hilfe von Fluchtnetzwerken, die sich quer durch Frankreich ziehen und in denen ungezählte Menschen mitarbeiten: Schmuggler und Bäuerinnen, Mitglieder der Alliierten und der französischen Resistance. Im Kampf gegen die Nazis setzen sie ihr Leben aufs Spiel: aus politischer Motivation, aus Solidarität, Humanismus, auch wegen guter Bezahlung.

1941 gründet die 24-jährige Andrée de Jongh in Belgien das Réseau Comète, das rund 400 alliierte Soldaten nach Spanien schmuggelt. Sie wird 1943 verhaftet, überlebt zwei KZs. Das Pat O'Leary-Netzwerk schleust 3.000 Menschen aus Frankreich, in enger Zusammenarbeit mit spanischen Anarchist_innen der Grupo Ponzán, die sich vom Sturz Hitlers auch das Ende Francos versprechen - vergeblich (9➘). Historiker_innen schätzen, dass 20.000 – 30.000 Jüdinnen und Juden von 1939 - 44 über die Pyrenäen entkommen. Jacques L. Godel aus Paris flieht im April 1943 vor antisemitischer Verfolgung nach Spanien (10➘):

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Close Wir liefen 24 Stunden lang. Wir schafften es nur weil die 4 Helfer, die uns führten, sehr stark waren. Sie trugen meine Mutter zeitweise auf dem Rücken. Mein Vater starb fast vor Erschöpfung. Denn 12 Stunden lang liefen wir durch Schnee.

Auch heute: Flucht und Migration

Täglich fliehen Menschen vor Diktatur, Krieg, Diskriminierung und Katastrophen, mit ähnlichen Erfahrungen wie damals: Angst vor Abschiebung, unüberwindbarem Bürokratismus und Grenzen.
Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg sind weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht. (UNHCR 2014, (11➘))
Global gesehen nimmt die Armut zu: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt fast die Hälfte des Weltvermögens (12➘). Die EU rüstet die Außengrenzen auf und begeht Menschenrechtsverletzungen wie hier am Grenzzaun der spanischen Enklave Melilla (Video: 13➘).

Ohne sichere und legale Wege nach Europa sterben zehntausende Migrant_innen an den EU-Grenzen und im Mittelmeer (14➘). Systematische Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen sind - trotz Schengen-Abkommen - Realität, auch bei Portbou und La Jonquera. Der Rat der Anwaltskammer von Katalonien (CICAC) kritisiert, dass die spanischen Grenzbehörden dort fortgesetzt das Grundrecht auf Rechtsbeistand verweigern und Menschen ohne Papiere weder Rechtsanwalt noch Übersetzer bieten (15➘).
Ähnliches verurteilt Rafael Flichman von Cimade, gegründet 1939 zur Unterstützung von Menschen in Internierungslagern wie Argeles-sur-Mer, und auch heute aktiv im Kampf für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen (16➘):

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Close Artikel 78-2 des französischen Strafgesetzbuchs erlaubt nur zufällige Kontrollen, und nicht länger als 6 Stunden am Stück. Aber die französische Grenzpolizei kontrolliert systematisch quasi alle Züge von Portbou nach Cerbere. Sie zielt ab auf Menschen, die „ausländisch“, etwa arabisch aussehen, oder mit schwarzer Hautfarbe. Ich habe beobachtet, wie blonde Touristen kaum beachtet, eine Ecuadorianerin aber kontrolliert wird. Die Polizei kontrolliert die Pässe von Argentiniern, stellt fest es sind Touristen, und interessiert sich ab da nicht weiter für die 3monatige Aufenthaltsfrist. Doch die Ecuadorianerin mit abgelaufener Aufenthaltsgenehmigung nimmt die Polizei fest. Cimade verurteilt diese diskriminierenden Kontrollen! Um so mehr als es im Schengen-Raum – in der Theorie - freien Personenverkehr gibt. Cerbere ist keine Ausnahme, in Hendaye am anderen Ende der Pyrenäen ist es genauso: systematische, permanente Kontrollen!

Was tötete Walter Benjamin?

Walter Benjamin wurde von den Nazis in den Selbstmord getrieben.
Der Pariser Professor für Philosophie Alain Brossat kritisiert diese verbreitete Darstellung in seinem Aufsatz Wer tötete Walter Benjamin? als unzulässige Vereinfachung, die staatliche Diskriminierung im Frankreich der 1940er-Jahre, Grenzregime und Ausschlussmechanismen ignoriert (17➘). Benjamin ist 1939 als feindlicher Ausländer interniert, ihm bleiben französische Staatsbürgerschaft und Ausreisevisum verwehrt. Diese innere Grenze (Brossat), die Degradierung zum Bittsteller stürzt Benjamin schon im französischen Exil in Verzweiflung und Isolation.
Brossat sieht Parallelen bei modernen Staaten, die auch heute die Bevölkerung kategorisieren, um, so Brossat,
diese Art von Separation und Aussortieren zu produzieren, ständig Hierarchien aufzustellen, den einen den Zugang (zu Jobs, Positionen, Rechten...) zu erlauben, und für andere Ausschlussbedingungen aufzustellen.
Brossat verurteilt die Transformation der EU
in eine “Festung Europa”, die Vervielfachung von Ausschlussmechanismen in unserer Gesellschaft, dazu geschaffen migrantische Arbeiter zu kategorisieren, aufzuhalten und abzuschieben.
Geschlossene Grenzen, Abschottung, unüberwindbare Visaregeln: Die Hürden auf der Flucht ähneln sich - gestern wie heute.

Quellen und externe Links

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  1. Foto aus dem Film L'exode d'un peuple, Jean Vigo Institute Collections
  2. Das Exilmuseum Museo Memorial del Exilio (MUME) in La Jonquera , Bildungsprogramm des MUME
  3. Hier das komplette Interview des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) mit Claire und Henry Ehrmann
  4. Der Film Villa Air Bel von Jörg Bundschuh begibt sich auf die Spuren von Varian Fry und dem ERC. Eine Produktion von Kick Film , der Film ist erhältlich bei Amazon:
  5. Die Ausstellung La batalla del Pirineo. Redes de información y evasión aliadas en el Pallars, el Alt Urgell y Andorra, durante la Segunda Guerra Mundial
  6. Keith Janes betreibt die Homepage Conscript Heroes zu Fluchtnetzwerken . Viele Informationen zu Fluchtnetzwerken auch hier und hier .
  7. Informationen zur Flucht über die Pyrenäen 1939 – 1944:
    • Perseguits i salvats und
    • Der Fluchtweg Chemin de la liberté
    • Josep Calvet: Las montañas de la libertad. El paso de refugiados por los pirineos durante la segunda guerra mundial 1939-1944. Alianza Editorial 2010 Auf katalanisch: Josep Calvet: Les Muntanyes de la Llibertat. El pas d'evadits pels Pirineus durant la Segona Guerra Mundial. Barcelona 2008
    • Rosa Sala Rose: La penúltima frontera. Fugitivos del nazismo en España. Barcelona 2011
    • Emilienne Eychenne: Pyrénées de la liberté. Les évasions par l'Espagne 1939 - 1945. Toulouse 1998
  8. Zu Paul Broué
  9. Antonio Téllez Solà: La Red de evasión del grupo Ponzán. Anarquistas en la guerra secreta contra el franquismo y el nazismo (1936-1944). Barcelona 1996
  10. Hier das komplette Interview des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) mit Jacques L. Godel
  11. Studie des UNHCR
  12. Armutsstudie von Oxfam
  13. Video von PRO.DE.IN Melilla
  14. Informationen dazu hier , hier und bei welcome to europe – Independent information for refugees and migrants coming to Europa
  15. Cimade (Comité inter mouvements auprès des évacués)
  16. Alain Brossat: Qui a tué Walter Benjamin? / Who killed Walter Benjamin? [FR] und [EN] , Quién mató a Walter Benjamin im Buch [ES] Alain Brossat, La Resistencia Infinita Seguido de: ¿Quién Mató a Walter Benjamin? Barcelona 2014