[8] Kunst und Medien(-theorie)

Überblick 8/11

Walter Benjamin, 'Was ist Aura?' · Manuskript aus dem Kontext des Essays 'Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit' (1936) · Blatt 1 von 3 · © Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv 264/2
Radio im Wohnzimmer Mitte der 1920er-Jahre
Sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter-Radio-Organisationen engagieren sich seit den 1920er-Jahren für eine Teilhabe Aller an dem neuen Medium
Freie Radios senden heute weltweit demokratisch und partizipativ

Gesellschaftliche Auswirkungen technischer Neuerungen

In den 1920er-Jahren überstürzen sich die medientechnologischen Entwicklungen. Die Ära des Rundfunks in Europa beginnt 1919 mit einer ersten Radiosendung in den Niederlanden, 1921 in Frankreich, 1923 in Spanien und Deutschland. Schon zur Jahrhundertwende läuft der erste (Stumm-)Film, 1921 der erste Film mit Tonspur in Stockholm, 1927 der erste Spielfilm in den USA. Die handliche Kleinbildkamera beginnt ihre steile Karriere auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1925. Das Tonband stellt in den 1930er-Jahren dem Grammophon ein Werkzeug zur vergleichsweise unkomplizierten Tonaufnahme und -wiedergabe zur Seite.

Benjamin sieht schon 1935 das emanzipatorische Potential der neuen Techniken (1-3➘) und die Chancen einer Entwertung des Originals:
So gibt zum Beispiel die Wochenschau jedem eine Chance, vom Passanten zum Filmstatisten aufzusteigen. (...) Es liegt heute so, dass es kaum einen im Arbeitsprozess stehenden Europäer gibt, der nicht grundsatzlich irgendwo Gelegenheit zur Publikation einer Arbeitserfahrung finden könnte. In der Sowjetunion kommt die Arbeit selbst zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrer Ausübung erforderlich ist.
Der Philosoph Theodor W. Adorno widerspricht ihm: 1938 zieht er in seinem Aufsatz Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens eine Parallele zu Marx' Analyse des Geldes: Bei Marx verliert das Geld im kapitalistischen Wirtschaften seine Beziehung zum von Menschenhand geschaffenen Produkt, bei Adorno verselbständigt sich die Beziehung zum Kunstwerk:
Das Prinzip des Stars ist totalitär geworden. Die Reaktionen der Hörer scheinen sich aus der Beziehung zum Vollzug der Musik zu lösen und unmittelbar dem akkumulierten Erfolg zu gelten.

Technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks

Prof. Dr. Jörg Zimmer, Girona. Inhaber des Stiftungslehrstuhls Walter Benjamin.
In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) reflektiert Benjamin die Veränderungen, die sich durch die neuen technischen Möglichkeiten ergeben (4-6➘): Kunstwerke können an nahezu beliebigen Orten betrachtet werden, sie können in neue Zusammenhänge gestellt und beliebig vervielfältigt werden, die ein Originalkunstwerk umgebende Aura verschwindet. Prof. Dr. Jörg Zimmer, Stiftungslehrstuhl Walter Benjamin an der Universität Girona, nennt anschauliche Beispiele für die von Benjamin skizzierten Veränderungen.

Befreiendes Potential der Massenkultur

Benjamin besteht darauf, dass vom Dynamit der Zehntelsekunde der Massenkultur der Funken ausgehe, der die gesamte Gesellschaft aus ihrem barbarischen Zustand befreit. Solche emanzipatorischen Möglichkeiten des Rundfunks betont auch Bertolt Brecht in den 20er- und 30er-Jahren:
Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. (7➘)
Freie Radios stellen weltweit Beteiligungsansätze im Sinne der geschilderten Theorien dar.
Wenn Benjamin die Trennung von Ausführenden und Publikum kritisiert und fordert, dass statt Referate zu senden die Öffentlichkeit zu Zeugen von Interviews und Gesprächen werden soll und bald dieser, bald jener das Wort haben soll, so steht Hans Magnus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien im Jahr 1970 in genau dieser Tradition:
Die Frage ist nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen.
Ganz in diesem emanzipatorischen Sinne entstanden insbesondere in den 1990er-Jahren Freie Radios, gerade auch in Lateinamerika und Afrika. Sie spielen eine wichtige Rolle für soziale Bewegungen.8+9➘ Mit Blick auf die heutige Internet-Kommunikation klingt Enzensberger (2000) allerdings skeptisch:
Die intellektuelle Potenz der digitalen Medien erlaubt nur sehr vorläufige Einschätzungen. Jeder Herrlichkeit, die sie zu bieten haben, entspricht ein fataler Verlust. Überall stolpert man über Bezeichnungen, die aus gutem Grund offen lassen, wovon die Rede ist: von Erkenntnis? Von Werbung? Von bloßen Daten? Von Blabla?

Radau um Kasperl - Das Hörspiel entsteht

Kaum ist das Radio erfunden, schafft es seine eigene Kunstform: Das Hörspiel. Schriftsteller, Theaterkünstler, Avantgardisten schreiben bis heute beachtete Werke. Auch Benjamin ist dabei, als der Rundfunk die Theaterbühne bis in die Wohnzimmer 10➘ ausdehnt. Von seinem Hörspiels Radau um Kasperl (1932) sind leider nur kurze Ausschnitte einer Aufnahme des Südwestdeutschen Rundfunks überliefert: Dem ersten Eindruck nach ein Werk für Kinder wendet sich Benjamin tatsächlich an alle Altersgruppen, in den Hörspieldialogen wird - an anderer Stelle - das neue Medium Radio reflektiert.

© Deutsches Rundfunkarchiv

Während der ersten großen Hörspielzeit gegen Ende der Weimarer Republik dominiert dann die Worthandlung in der Hörspieldramaturgie, Geräusche haben vorrangig dienende Funktion. Etwa in Spuk (Rolf Gunold 1925), einem klassisches Hörspiel, in dem die Handlung im akustisch wahrnehmbaren Raum stattfindet oder in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1930). Auf Grund des faschistischen Drucks auf das Medium Radio entstehen nur vereinzelt politisch engagierte Hörspiele wie etwa Heilige Johanna der Schlachthöfe von Bertolt Brecht (1932).

Quellen und externe Links

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  1. Benjamin kritisiert die Trennung zwischen Ausführendem und Publikum: Der Publizist und Gesellschaftskritiker Roger Behrens, Die Stimme als Gast empfangen [DE]
  2. In theoretischen Ausführungen fordert Benjamin eine eigene Rundfunk-Ästhetik, seine Praxis umfasst rund einhundert Sendungen: Reinhard Döhl, Walter Benjamins Rundfunkarbeit. [DE]
  3. Der Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit im Originaltext. [DE] , [EN] , [ES] (16 MB pdf)
  4. Interview mit Prof. Dr. Jörg Zimmer zu der veränderten Rolle von Kunst in Folge der technologischen Umbrüche zu Beginn des vorigen Jahrhunderts:
  5. Der Tagesspiegel: Das Kunstwerk auf dem Rechnungsblock, zur Arbeitsweise von und einer Ausstellung in Paris zu Benjamin [DE]
  6. Kunst, Kultur, Kommerz im Kapitalismus: Esther Leslie, Walter Benjamin, Politik und Ästhetik [DE] Esther Leslie, Walter Benjamin, Politics, Aesthetics [EN]
  7. Bertolt Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat [DE] , Bertolt Brecht, The Radio as an Apparatus of Communication [EN]
  8. Der Bundesverband Freier Radios (BFR) ist der Dachverband Freier Radios in Deutschland. [DE]
  9. Die World Association of Community Radio Broadcasters (AMARC) ist der Weltverband der Freien Radios. [EN] [FR] [ES]
  10. Zauberei auf dem Sender ist ein erstes Hörexperiment des Rundfunkpioniers Hans Flesch (1924):