[10] Walter Benjamins Tod

Überblick 10/11


Ankunft in Portbou ohne Ausreisestempel

Seit es Grenzen gibt, kann ein Stempel über Leben oder Tod entscheiden - bis heute. Der oft kafkaesken Grenzsituation, voller Willkür und Bürokratie, ist auch Walter Benjamin ohnmächtig ausgeliefert. Nach der strapaziösen Flucht über die Pyrenäen erreichen Benjamin, die Photographin Henny Gurland und ihr Sohn Joseph am Abend des 25. September 1940 Portbou. Benjamin hat ein Visum für die USA und die nötigen Transitvisen durch Spanien und Portugal. Einzig der kaum zu erlangende französische Ausreisestempel fehlt ihm, was am Tag zuvor am Grenzposten noch gleichmütig übersehen wird.
Doch nun gelten neue Bestimmungen, die spanische Grenzpolizei verweigert den Flüchtenden die Einreise. Nach einer Nacht in einer Pension, unter Bewachung, sollen sie zurück nach Frankreich. Carina Birman, die am gleichen Tag flieht und ebenfalls in der Pension untergebracht ist, erinnert sich:
Benjamin war in einem desolaten Gemütszustand und körperlich völlig erschöpft. (1➘)
Viele Exilant_innen unternehmen mehrere Fluchtversuche, Birman und ihre Begleiterin Sophie Lippmann bestechen die Grenzer mit Goldmünzen. Doch der herzkranke Benjamin resigniert angesichts der Gefahr in die Fänge der Nazis zu geraten. Henny Gurland:
Er sagte mir, dass er abends um 10 Uhr große Mengen Morphium genommen hätte und ich versuchen solle die Sache als Krankheit darzustellen. (2➘)

Tod und Begräbnis

Walter Benjamin stirbt am 26. September 1940 in Portbou. Aus seinem Zimmer dringt rasselnder Atem, erinnern sich die Zeug_innen seiner letzten Stunden: Henny und Joseph Gurland, Carina Birman, Grete Freund. Sie alle gehen wie Birman von Selbstmord durch eine Überdosis Morphium aus:
Wir hörten, dass er erfolgreich war und nicht länger unter uns weilte.
In einem Brief an Theodor W. Adorno soll Benjamin seine Absichten klar geäußert haben, berichtet Henny Gurland. Der Brief ist nicht erhalten, Gurland zitiert ihn nur aus dem Gedächtnis:
In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden. Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt. (3➘)
Als letzte Habseligkeiten Benjamins listet der Stadtrichter von Portbou auf: Taschenuhr, Banknoten, Reisepass, Passbilder, Röntgenaufnahme, Tabakspfeife, Brille, Briefe und Zeitungen. (4➘) Am 28. September 1940 wird Walter Benjamin beerdigt. Ein bizarrer Tod: Der Arzt behandelt Benjamin mit Spritzen und Aderlass und diagnostiziert Gehirnblutung, Dokumente verschwinden, der jüdische Philosoph wird katholisch begraben. Von Morphium und Selbstmord keine Spur, die amtliche Todesursache lautet: Gehirnblutung. Anzeichen für eine bewusste Verschleierung? Oder plausible Wirren um den Tod eines der unzähligen ausländischen Reisenden im vom Bürgerkrieg noch zerstörten Portbou? Einige Ungereimtheiten (vertauschter Vor- und Nachname, unterschiedliche Grabnummern) lassen sich auflösen. Andere Rätsel und Widersprüche bleiben.

Wer tötete Walter Benjamin?

Bis heute ranken sich Mythen um Benjamins Tod. War es doch kein Selbstmord? Hat ihn Hitlers Gestapo umgebracht? Gar Stalins Geheimdienst? Spanische Faschisten? In seinem Film Wer tötete Walter Benjamin... trägt der Regisseur David Mauas Unstimmigkeiten zu den letzten Stunden Benjamins zusammen: unterschiedliche Todesdaten, die christliche Beisetzung eines Juden (und Selbstmörders?), widersprüchliche Augenzeugenberichte zum Todeskampf, vertauschter Vor- und Nachname, der Arzt ein lokaler Falangechef und Faschist...
Der Film Wer tötete Walter Benjamin...
... sucht Antworten auf die zweifelhaften Umstände seines Todes und stellt zugleich das Porträt eines Grenzortes dar. Einem Ort zwischen zwei Fronten, Zeuge von Flucht, Verfolgung und falschen Hoffnungen. (5➘)
Schon vorher, 1992, versucht Ingrid Scheurmann die näheren Umstände des Todes von Walter Benjamin zu beleuchten und fördert dabei neue, bisher unbekannte Dokumente aus Archiven zu Tage. Sie klärt Rätsel auf, zweifelt manche Aussagen Gurlands an und schreibt:
Ein Rest an Ungewissheit über die eigentliche Todesursache verbleibt. (6➘)
Erdmut Wizisla, der Leiter des Walter-Benjamin-Archivs in Berlin zum Tod Benjamins:

Gedenkkultur in Portbou

Wir haben, als wir Monate später in Port Bou ankamen, vergeblich sein Grab gesucht: es war nicht zu finden, nirgends stand sein Name.
Das schreibt Benjamins Vertraute, die Philosophin Hannah Arendt, die Anfang 1941 auf ihrer Flucht durch Portbou kommt. (5➘) Benjamins Grabnische trägt keinen Namen, bezahlt ist sie für fünf Jahre. Jordi Font, der Leiter des Museo Memorial del Exilio (MUME) zur ersten Etappe des Gedenkens in Portbou:

[DE]
Close Im franquistischen Spanien wollte niemand an Walter Benjamin erinnern, seine sterblichen Überreste wurden ins Massengrab geworfen. 1979 brachte die demokratische Regierung eine Gedenktafel für den jüdischen deutschen Philosophen an. Heute steht dort, wo früher das Massengrab war, ein Monolith für Benjamin.
Heute ist die Erinnerung an Walter Benjamin in Portbou nicht zu übersehen. (8➘) Informationstafeln weisen auf seine letzten Stationen in Portbou hin, das Exilmuseum (MUME) bietet Rundgänge und Bildungsreisen an (9➘). Der Fluchtweg Benjamins und vieler anderer über die Pyrenäen ist beschildert, der Gedenkort Passagen am Friedhof erinnert an Verfolgung und Exil. Jedes Jahr zum Todestag Benjamins im September findet in Portbou ein internationales Symposium zum umfangreichen Werk des bedeutenden Intellektuellen Benjamin statt.

Quellen und externe Links

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  1. Carina Birman: The Narrow Foothold, London 2006
  2. Brief von Henny Gurland an Arkadi Gurland. In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Band 5, S. 1196
  3. Henny Gurland in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Band 5, S.1203
  4. Bericht des Stadtrichters von Portbou Fernando Pastor Nieto vom 4. Oktober 1940
  5. Wer tötete Walter Benjamin... Film von David Mauas, 2005
  6. Ingrid Scheurmann: Neue Dokumente zum Tode Walter Benjamins. Bonn 1992
  7. Hannah Arendt: Illuminations. Walter Benjamin. Essays and Reflections. New York 1969 Detlev Schöttker, Erdmut Wizisla: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente. Frankfurt am Main 2006
  8. Das Exilmuseum Museo Memorial del Exilio (MUME) in La Jonquera: