[11] Passagen: Gedenkort und Benjamins Hauptwerk

Überblick 11/11


Von der Mühsal, einen Gedenkort zu errichten

Kurz nach Ende des Franco-Faschismus in Spanien bringt die Gemeinde Portbou 1979 eine erste schlichte Tafel für den deutschen Philosophen Walter Benjamin an der Friedhofsmauer an. Gerade 40 Jahre vorher hat deutsches Militär durch die Unterstützung Francos sowie die Besetzung Frankreichs doppelt verheerende Auswirkungen auf das Leben in Katalonien, wird Portbou zwei mal Nadelöhr für das europäische Exil.
Die Anregung zu einem umfangreicheren Gedenkort wird Ende der 1980er-Jahre von einem Bürger an den damaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker herangetragen, dann aber von konservativer Seite und 1992 durch eine Kampagne der „Bild“-Zeitung in Frage gestellt.
Der Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e. V. nimmt sich des Projekts an, der damalige Geschäftsführer Konrad Scheurmann erinnert sich heute:
1989 standen in der Bundesrepublik Denker, die sich kritisch mit Gesellschaft, Geschichtswissenschaft und Politik auseinandergesetzt haben - vorsichtig formuliert - nicht im Fokus des Interesses. Dadurch wurde das Projekt von zahlreichen politischen Animositäten beeinträchtigt.
1993 übernehmen die deutschen Bundesländer, die Regionalregierung von Katalonien, die Gemeinde Portbou sowie Privatleute die Finanzierung, am 15. Mai 1994 kann der Ort zum Gedenken an Benjamin, an Exil und Verfolgung in Anwesenheit von Lisa Fittko eingeweiht werden.

Der Gedenkort Passagen von Dani Karavan

Es muss also etwas gefunden werden, das gerade nichts festschreibt, beunruhigend und in die Zukunft weisend ist. (1➘)
Der israelische Künstler Dani Karavan gestaltet den Weißen Platz in Tel Aviv, den Weg des Friedens (Way of Peace) zwischen Israel und Ägypten, die Straße der Menschenrechte in Nürnberg. In Portbou spielt er mit den Elementen des Ortes: Olivenbäume sollten unsere Grenzen sein formuliert er schon 1976. Konrad Scheurmann zu der Entscheidung für Karavan:
Karavan spricht bewusst nicht von einem statisch wirkenden Denkmal, genau genommen besteht sein Werk aus mehreren einzelnen Gedenk-Orten: Den sich permanent ändernden ➀ Felsenstrudeln als Abbild von Benjamins wechselvollem Leben, dem schmalen ➁ Korridor zwischen rostigen Stahlplatten, einem ➂ Olivenbaum als Friedenssymbol sowie einer ➃ Plattform mit Stahlwürfel und dem Blick zum Horizont, dem Gefühl von Freiheit - dazwischen jedoch Zaun und Friedhof. (2➘)
Bewegung, Unruhe und Weiterstreben sind charakteristische Merkmale, die das Verhalten der Reisenden an jeder Grenze kennzeichnen, so auch in Portbou. (3➘)
Der transitorische Charakter von Portbou manifestiert sich am unmittelbarsten in Gestalt des Bahnhofs, der dem Ort seinen architektonischen und akustischen Stempel aufdrückt. Er sowie die Stahl-Glas-Konstruktionen der Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts führten zur Wahl der Baumaterialien. Dani Karavan 2014:

TvCanTonicus, Portbou (4➘)

Benjamins Passagenarbeit

Prof. Dr. Jörg Zimmer, Stiftungslehrstuhl Walter Benjamin an der Universität Girona, zu Inhalt und Form der Passagenarbeit:
Aus der englischen und deutschen Wikipedia:
Eine zwischen 1927 und 1940 geschriebene enorme Sammlung von Schriftstücken zum städtischen Leben in Paris des 19. Jahrhunderts, ausgehend von den aus Stahl und Glas konstruierten Passagen. (...) Der als Hauptwerk geplanten, unvollendeten Studie hatte er zeitweilig die Form einer surrealistischen Zitatmontage zugedacht.(5+6➘)
Die deutschsprachige Wochenzeitung Die ZEIT zum inhaltlichen Fokus:
Benjamin wollte, über Straßen und Warenhäuser, Panoramen und Weltausstellungen, über Mode, Prostitution und Reklame nachdenkend, eine „dialektische Feerie“ entwerfen und eine materiale Geschichtsphilosophie des kapitalistischen Zeitalters schreiben. (7➘)
Dr. Holger Brohm (Humboldt-Universität Berlin) zur Einordung der Passagenarbeit:
Das Werk gilt als einer der Grundlagentexte materialistischer Kulturtheorie. (8➘)
Prof. Dr. Bernd Witte zu der Rolle der Passagenarbeit innerhalb Benjamins Gesamtwerk:
In der langen Entstehungszeit des Werkes, das 1927 zunächst als Aufsatz für die Zeitschrift „Der Querschnitt“ konzipiert wurde, waren seine erkenntnistheroretischen Grundlagen einer radikalen Neuorientierung unterworfen. (9➘)
Dr. Dirk Hohnsträter (Universität Hildesheim) zur Form der Passagenarbeit:
Die 1354 Seiten Text erfordern einen Lektürestil, der weder an einer durchgearbeiteten Monografie noch am effizienzorientierten Reader ausgerichtet ist. (10➘)
Benjamin im Sommer 1938 zu den Bedingungen seines Arbeitens:
Es war ein Wettrennen mit dem Krieg; und ich empfand ein Gefühl des Triumphes an dem Tage da ich den seit fast fünfzehn Jahren geplanten „flaneur“ vor dem Weltuntergang unter Dach und Fach gebracht hatte. (11➘)
Adornos ablehnendes Schreiben an Walter Benjamin Ende 1938:
Die Materialistische Determination kultureller Charaktere ist möglich nur vermittelt durch den Gesamtprozess. (12➘)
Konrad Scheurmann zum Fragmentarischen in der Passagenarbeit:
... wäre sicher auch dann unvollendet geblieben und posthum erschienen, wenn Benjamin hundert Jahre alt geworden wäre. (...) Vielleicht liegt der „rhetorische Schlüssel“ darin, dass er die Haltung des „flaneur“ bis zu ihren letzten Konsequenzen trieb. Vielleicht ist die das Passagen-Werk kennzeichnende Zersplitterung die Übertragung der im zutiefst kantischen Sinne des Begriffs „interesselosen“ Aufmerksamkeit auf den Bereich der literarischen und philosophischen Diskursivität. (13+14➘)
Die deutschsprachige Boulevardzeitung Hamburger Abendblatt zu einem angenehm lesbaren Bändchen zu Benjamins Passagenarbeit mit gelungen zusammengestellten Häppchen:
In der bibliophilen Corso-Ausgabe wird Benjamins wuchernde Gedankensammlung auf eine sinnliche und großzügig gesetzte Collage verknappt. (15➘)

Quellen und externe Links

Externe Links öffnen sich in einem neuen Browserfenster oder Tab.
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  1. Ingrid Scheurmann / Konrad Scheurmann: Für Walter Benjamin, Frankfurt/Main 1992, S. 254
  2. Karavan in seinen eigenen Worten zu den Elementen seines Gedenkortes [CA] [EN] [ES]
  3. Scheurmann: Für Walter Benjamin, S. 249
  4. Das vollständige Video von Joan Gubert i Macias zum 20. Jahrestag des Gedenkortes von Dani Karavan am 19. 11. 2014:
  5. Wikipedia englisch
  6. Wikipedia deutsch
  7. Die ZEIT 1982
  8. Brohm (HU Berlin)
  9. Bernd Witte: Walter Benjamin, Reinbek 1985, S.116
  10. Hohnsträter (Universität Hildesheim)
  11. Walter Benjamin: Briefe, Frankfurt/Main 1966, S. 778
  12. dto., S. 784
  13. Scheurmann: Für Walter Benjamin, S. 211
  14. Scheurmann: Für Walter Benjamin, S. 214
  15. Hamburger Abendblatt
  16. Walter Benjamin: Das Passagenwerk
  17. Die Webseite zum Gedenkort [EN] [CA] [ES] :
  18. Die Kulturinitiative Passatges [CA] [ES] [EN] [FR]:
  19. Ingrid Scheurmann / Konrad Scheurmann Dani Karavan - Hommage an Walter Benjamin, Der Gedenkort "Passagen" in Portbou [DE] / Dani Karavan - Homenatge à Walter Benjamin - Hommage à Walter Benjamin [CA] [FR]